Glaube wichtiger als Fliegerei
Das staatsrätliche Flugverbot
Im Einverständnis mit dem Briger Komitee hatte das dirigierende Mailänder Komitee die Briger Flugwoche vom 18. bis 24. September 1910 festgesetzt. Dabei übersahen die Briger, dass der 18. September als dritter Septembersonntag mit dem seit 1832 offiziell in der Schweiz gefeierten Eidgenössischen Dank-, Bitt- und Bettag zusammenfällt. Knapp vor Beginn der Flugtage bekam das Briger Komitee Post aus Sitten mit der unmissverständlichen Aufforderung, dafür zu sorgen, dass am Eidgenössischen Bettag bis 12.00 Uhr jeder Flugversuch unterbunden wird.
Hotel Couronne et Poste in Brig in seiner Glanzzeit 1906, anlässlich der Eröffnung des Simplontunnels, in welchem Chavez 1910 Quartier bezog
Aufgebracht vom Streik der Flieger drohte das Publikum, die Kasse beim Startplatz zu stürmen
Die Reaktionen auf das halbtägige Flugverbot kamen umgehend. Von Mailand aus hagelte es Protesttelegramme. Ein wüstes Schimpfen über die Schweiz, ihre Regierung und die Geistlichkeit brach los. Die widersprüchlichsten Behauptungen und Anschuldigungen jagten sich.
Nicht minder konfliktgeladen war die Stimmung in Brig. Schon am Freitag, vor Beginn der Flugwoche, kam es zu tumultartigen Auseinandersetzungen und Anschuldigungen, denen sich Seiler und seine Getreuen erwehren mussten.
In der Absicht, die Wogen zu glätten, lud Nationalrat Seiler am Samstag die zahlreich in Brig anwesenden Pressevertreter zu einem «Déjeuner» ein. Er versuchte die Bedeutung des Eidgenössischen Bettages für Land und Leute im Zusammenhang mit dem für Sonntag bis 12.00 Uhr behördlich ausgesprochenen Flugverbot zu erklären. «Der Dank-, Bitt- und Gebettag», sagte Seiler, «ist tief im Bewusstsein der Schweizer Volksmeinung aller Konfessionen und Parteien verankert.» Mercanti, der Bevollmächtigte des Mailänder Komitees, erklärte sich in der Aussprache mit dem Flugverbot schliesslich einverstanden. An die Zustimmung knüpfte er einzig die Bedingung, dass die Aviatiker hievon benachrichtigt werden, was auch geschah.
Die Beruhigung war von kurzer Dauer. Am Samstagabend, als besseres Flugwetter in Sicht war, liess Chavez verlauten, dass er am frühen Sonntagmorgen um 6 Uhr zum Alpenflug aufsteigen werde. Für Journalisten und viele andere Beobachter der Geschehnisse auf dem Flugfeld war Chavez’ Ungeduld nicht unbegründet. Chavez war mit der Fluglinie bestens vertraut und in jenem Zeitpunkt als einziger Konkurrent mit seiner Blériot XI flugbereit. Diesen Vorteil – so hörten sich die kursierenden Vermutungen – wollte der Peruaner als Erststartender nutzen. Doch die Zwängerei war unnütz. Auf der Simplonpasshöhe blies am frühen Bettag ein sturmartiger Südwind.
Franz Marty musste hinterher den Pressevertretern eingestehen, dass sich die Briger von den Versprechungen des Cavaliere (Mercanti) getäuscht sehen. «Am Samstagabend fing es an zu wetterleuchten und gegen Mitternacht brach der Sturm los», erklärte Marty. Man sei von den «Luftschiffern gassenbudenmässig insultiert worden». Das Ansinnen war nach Marty klar: «Man wollte uns zwingen, das Flugverbot rückgängig zu machen.» NZZ-Redaktor Bierbaum schrieb über Seilers «Friedensbemühungen», die statt in einer Annäherung in einem Streitgespräch ausarteten. «Wir werden die internationale Presse gegen Sie aufrufen und Ihr Vorgehen an den Pranger stellen», reklamierte ein Wortführer. Nationalrat Seiler entgegnete: «Wichtiger als die Haltung der internationalen Presse ist für uns, dass die schweizerische Presse uns nicht nachsagen kann, wir seien Verächter an dem, was unser Volk mit Recht heilig ist.» Es ging so hin und her, kommentierte die «Neue Zürcher Zeitung». Zum Erstaunen des Redaktors schwenkten auch die Korrespondenten der Pariser «Temps» und der «New York Herald» auf die Meinungen der Italiener ein. Schliesslich – die erste Morgenstunde hatte schon geschlagen – kamen die Kontrahenten überein, ihren Disput nicht weiter öffentlich, sondern hinter geschlossenen Türen beizulegen. Die Aussprache dauerte bis Samstagmorgen um 3 Uhr. Das Ergebnis war ernüchternd. Kurz, aber deutlich genug war nach NZZ-Redaktor Bierbaum das Resultat, nämlich gegenseitiger Kriegsfuss.
Streik der Aviatiker
Äusserungen, wonach sich die Aviatiker möglicherweise nicht an das Flugverbot halten würden, riefen die Gesetzeshüter auf den Plan. Major de Preux liess das Flugfeld in Ried-Brig vorsorglich besetzen, und dies, «wenn nötig mit Gewalt». Als «Dokument» dieser Aktion erschien in der italienischen Presse ein Foto, deren Szene die Journalisten des «Corriere della Sera» und des «Secolo» zu inszenieren wussten. Wohl auf ihre Einwirkung hin wurde das Flugzeug Wiencziers aus dem Hangar ins Freie vorgezogen. Den Wunsch für ein «Erinnerungsfoto» dürften die ahnungslosen Landjäger nicht ausgeschlagen haben. Sie gruppierten sich bereitwillig um den Flugapparat. Wenn auch das Bild unter zweifelhaften Umständen zustande kam, die Premiere war von historischer Bedeutung.
Der eidgenössische Buss- und Bettag
«Ein Bettags-Feldgottesdienst auf dem Startplatz – ein Sonnenleuchten über Berg und Tal – aber keine Weihe bei den vielen Menschen», so beschrieb Redaktor Baumberger den angebrochenen Morgen am Eidgenössischen Bettag. «Automobile aller Dimensionen rasen zum Startplatz hinauf. Die Eisenbahnzüge bringen ganze Volksmassen, wenigstens nach hiesigen Begriffen, von Domodossola her und vom Mittel- und Unterwallis sowie von den Gestaden des Genfersees. Wie soll das enden?» So las sich die bedrückende Frage in der «Neue Zürcher Nachrichten». Was anfänglich angesichts des sonnenbestrahlten Startplatzes kaum glaubhaft war, sollte sich zur grossen Enttäuschung für die rund 2000 Zuschauer bewahrheiten. Die Aviatiker Chavez, Weymann und Cattaneo waren für einen Aufstieg nicht zu gewinnen. Sie folgten – so die Vermutungen – den inoffiziellen Empfehlungen der Mailänder. Als die Unstimmigkeiten beim Publikum durchsickerten, stockte es mit dem Verkauf von Eintrittskarten.
Ein letzter Versuch, Chavez oder Weymann für einen Flug zu gewinnen, scheiterte. Chavez und danach auch Weymann wiesen die 1000 Franken zurück, die das Briger Flugkomitee für einen Flug bot, um das Publikum einigermassen zufriedenzustellen. «Ich bin doch kein Zirkuspferd, das man beliebig zur Belustigung vorführt», mit diesen höhnischen Worten soll Geo Chavez das gut gemeinte Angebot ausgeschlagen haben.
Schliesslich öffnete man den Zuschauern, die ihre Eintrittskarten bezahlt hatten und vergeblich der Flüge harrten, die Absperrungen zum Startplatz, «um die Apparate in den Zelten zu besichtigen».