Der tragische Sieg

Ein grosses weisses Kreuz kennzeichnete im Orte Siberia unterhalb von Domodossola den vorbestimmten Landeplatz. Bald nach dem gemeldeten Aufstieg und dem Überflug des Simplons mehrten sich die Zuschauer, die dem Anflug Chavez’ auf italienischem Boden entgegenfieberten. Plötzlich, von aufgeregten Stimmen wahrgenommen, erschien am Horizont die immer deutlicher erkennbare Blériot von Chavez. Begeisterte Zurufe, schwenkende Tücher und Wimpel grüssten den Sieger der «Traversata delle Alpi». Da geschah das Unfassbare. Aus heiterem Himmel, in einer Höhe von kaum 10 bis 15 Metern, klappte ein Flügel der Blériot brechend zusammen. Der Eindecker stürzte jäh zu Boden. Chavez, der nur Sekunden zuvor bejubelte Held, musste verletzt, aber wie es schien, noch ansprechbar aus den Trümmern seines Aeroplans befreit und geborgen werden. Es war 14.11 Uhr, also 42 Minuten nach seinem Aufstieg zum siegreichen Alpenflug. Bei seiner Einlieferung in das Spital San Biagio in Domodossola war das «gut belüftete und beheizbare Krankenzimmer» bereits hergerichtet. Dr. Alfonso Veggia, unterstützt vom Spitalpersonal, leistete erste medizinische Hilfe. Etwas später stand auch Dr. Pasini di Alfonsine, der Arzt im Dienste des Mailänder Flugkomitees, am Krankenbett des verletzten Simplonbezwingers. Die Ärzte stellten übereinstimmend fest, dass sich Chavez bei der Landung mehrere Verletzungen zugezogen hat. Seine Beine waren mehrfach gebrochen. Weiter erlitt er Quetschungen und Schürfungen, vor allem im Gesichtsfeld. Die Verletzungen waren nach dem Urteil der Ärzte zwar erheblich, aber in Berücksichtigung der starken und gesunden Konstitution des jungen Sportsmannes keineswegs lebensbedrohend.

Die Bruchlandung  Chavez’. Heute kennzeichnet ein Denkmal  bei Domodossola  die Absturzstelle.
Die Bruchlandung Chavez’. Heute kennzeichnet ein Denkmal bei Domodossola die Absturzstelle.

Staatsrat Kuntschen, Ehrenpräsident des Briger Komitees, stand in unmittelbarer Nähe, als Chavez startete, nachdem er ihm noch kurz zuvor ein gutes Gelingen wünschte. Bei der über Kabel bestätigten Überfliegung des Simplons sah Kuntschen mit vielen anderen Zeugen eine glückliche Landung voraus. Doch es verging kaum eine Stunde, und Kuntschen erfuhr von der Bruchlandung Chavez’ und seinen dabei erlittenen Verletzungen sowie seiner Überführung ins Spital von Domodossola. Staatsrat Kuntschen zögerte keinen Augenblick. Er bestieg in Brig den ersten Zug nach Domodossola. Im Spital S. Biagio angekommen, trat er an Chavez’ Spitalbett. Hier lag der Held der Lüfte, wie es schien, unbeweglich, sein Gesicht geschwollen und belegt von aufgelegten kühlenden Kompressen gegen das Fieber. Kuntschen, vom leidigen Anblick Chavez' berührt, gratulierte dem Bezwinger der Alpen und wünschte ihm eine baldige Genesung. Chavez, der noch am Vormittag mit Kuntschen einige Worte wechselte, bekundete Mühe, seinen Besucher zu erkennen. Im fiebernden Zustand murmelte Chavez: «Mais laissez-moi donc me retourner.» So sah und nahm Kuntschen Abschied von Geo Chavez, schreibt André Biollaz in seinem Werk «L’histoire de l’aviation en Valais».

Anderntags, am 24. September, traf der zu einer Konsultation gebetene Professor Dr. Antonio Carle von der Universität Turin im Spital in Domodossola ein. Mit seinem Assistenten, Dr. Giorgio Massobrio, untersuchte er am selben Abend den Patienten, ehe er am folgenden Tag nach einer eingehenden Untersuchung das Resultat dem Bevollmächtigten des Mailänder Flugkomitees übermittelte. Carle bestätigte im Wesentlichen die festgestellten Verletzungen seiner Arztkollegen und diagnostizierte auch keine inneren Verletzungen.

Am folgenden Tag, von Kopfschmerzen geplagt, aber in verhältnismässig guter Verfassung, wünschte Chavez, Duray, seinen engsten Vertrauten, und auch den lieb gewonnenen Journalisten Luigi Barzini zu sehen. Neugierig wollte Chavez wissen, was die Presse über seinen Alpenflug berichtete. Duray, in der Hand eine Menge eingegangener Telegramme und, wie gewünscht, mit einer Anzahl Zeitungen, trat an das Krankenbett. Zunächst verlas er ihm eine Auslese der eingegangenen Glückwünsche, die aus allen Weltteilen eintrafen. Ihnen folgten, nur wenig später, die Wünsche auf eine baldige Genesung. Interessiert hörte Chavez von seinem Freund und Manager die Kommentare aus den bekanntesten Zeitungen. Weiter informierte Duray seinen Schützling, dass Weymann auf alle weiteren Versuche einer Überfliegung des Simplons verzichtet und Brig bereits in Richtung Mailand verlassen habe. Am späteren Nachmittag traf aus Mailand cav. Arturo Mercanti ein. Der Bevollmächtigte des Mailänder Komitees unterrichtete Chavez vom Entscheid des Zentralkomitees des «Circuito di Milano – Traversata delle Alpi», seinen Alpenflug mit einem Spezialpreis von 50 000 Lire zu honorieren. Zudem würdigte die Stadtbehörde von Mailand seinen epochemachenden Flug mit der Zuerkennung der goldenen Medaille der Stadt Mailand.

Absturz gemalt